Mitverschulden bei Radfahren ohne Fahrradhelm?

Urteil des Oberlandesgerichts Schleswig: Einführung einer Helmpflicht für Fahrradfahrer durch die Hintertür.

Das Oberlandesgericht Schleswig hat mit Urteil vom 5. Juni 2013 (Aktenzeichen 7 U 11/12) entschieden, dass Fahrradfahrern bei einem Zusammenstoß mit einem anderen Verkehrsteilnehmer eine Mitschuld zur Last fällt, wenn sie keinen Fahrradhelm tragen und ein solcher eine Kopfverletzung verhindert oder gemildert hätte. Dem Fahrradfahrer wird somit ein Mitverschulden auch dann zur Last gelegt, wenn sich allein der Unfallgegner verkehrswidrig verhalten hat.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Eine Fahrradfahrerin fuhr mit ihrem Fahrrad an einem parkenden Auto vorbei. Sie trug keinen Fahrradhelm. In dem Moment, als die Radfahrerin auf Höhe des Autos war, öffnete die Autofahrerin unvermittelt die Autotür. Die Fahrradfahrerin konnte nicht mehr ausweichen und fuhr gegen die Autotür. Dabei stürzte sie, fiel auf den Hinterkopf und zog sich erhebliche Kopfverletzungen zu, so dass sie einige Zeit im Krankenhaus stationär behandelt werden musste.

Obwohl die Autofahrerin den Unfall grob fahrlässig verursachte und die Radfahrerin den Unfall nicht verhindern konnte, nahm das Gericht an, dass die Fahrradfahrerin ein Mitverschulden an dem Unfall und dessen Folgen trifft. Denn nachdem das Gericht ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte, ging es davon aus, dass ein Fahrradhelm die schweren Kopfverletzungen der Fahrradfahrerin zwar nicht verhindert, aber doch in einem gewissen Umfang verringert hätte. Das Mitverschulden bezifferte das Gericht mit einer Quote von 20 %. Damit erhält die Fahrradfahrerin nur 80 % Ihres Unfallschadens ersetzt, also entsprechend verminderten Schadensersatz und ein geringeres Schmerzensgeld.

In Deutschland gibt es eine gesetzliche Helmpflicht bislang nur für Fahrer von Motorrädern und anderen Krafträdern. Sämtliche Obergerichte gingen daher bislang davon aus, dass Fahrradfahrer im Falle eines Unfalles auch dann keine Mitschuld trifft, wenn ein Fahrradhelm die durch den Unfall verursachten Verletzungen verhindert oder verringert hätte. Nach bislang einhelliger Meinung galt das jedenfalls für Fahrradfahrer, die sich mit ihrem Fahrrad im Straßenverkehr bewegten. Manche Gerichte machten eine Ausnahme für die Fahrradfahrer, die ihr Fahrrad nicht als Fortbewegungsmittel, sondern als Sportgerät benutzten, also bei sportlich ambitionierten Fahrern, die zum Beispiel mit einem Rennrad unterwegs waren.

Das Oberlandesgericht Schleswig wagte sich mit seinem Urteil nun vor und stellte sich gegen die bisher allgemein herrschende Meinung der übrigen Oberlandesgerichte. In seiner Entscheidung verweist das Gericht darauf, dass trotz fehlender gesetzlicher Helmpflicht ein Mitverschulden in Betracht kommen kann. Es stützte sich auf den Grundsatz, dass sich derjenige auch ohne gesetzliche Pflicht ein Mitverschulden anrechnen lassen muss, der die Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt.

Man spricht von einem Verschulden gegen sich selbst, das dann vorliegt, wenn man Obliegenheiten gegen sich selbst verletzt. Aus diesem Grunde habe der Bundesgerichtshof bei Motorradfahrern, die ohne Helm fuhren, ein dann ein Mitverschulden angenommen, bevor es eine gesetzliche Helmpflicht gab. Auch sei bei Skifahrern, die ohne Schutzhelm fahren, ein Mitverschulden angerechnet worden, obwohl es noch keine gesetzliche Helmpflicht gebe. Radfahren im allgemeinen Straßenverkehr sei nicht weniger gefährlich. Mit modernen Tourenrädern könnten dank des technischen Fortschritts inzwischen so hohe Geschwindigkeiten gefahren werden, dass eine unterschiedliche Behandlung von Fahrern von Rennrädern oder Geländerädern nicht gerechtfertigt sei.

Entscheidend sei aber, dass der gegenwärtige Straßenverkehr besonders dicht sei, bei dem motorisierte Fahrzeuge überwögen und Radfahrer von Kraftfahrern oftmals nur als störende Hindernisse angesehen würden. Wegen ihrer höheren Geschwindigkeiten etwa gegenüber Fußgängern, seien Radfahrer besonders gefährdet, Kopfverletzungen zu erleiden. Helme würden dagegen schützen. Zudem sei die Anschaffung eines Helms wirtschaftlich zumutbar und das Tragen von Helmen sei inzwischen so weit verbreitet, so dass man von einer allgemeinen Überzeugung sprechen könne.

Anders als das Oberlandesgericht Schleswig meint, sind Fahrradhelme in der Bevölkerung nicht allgemein akzeptiert. Im Gegenteil. Zahlreiche Gegner gegen eine allgemeine Fahrradhelmpflicht, allen voran der ADFC, konnten bislang verhindern, dass der Gesetzgeber eine gesetzliche Pflicht einführte. Zu Recht. Denn es gibt viele gute Gründe gegen eine Fahrradhelmpflicht. Als in Australien 1991 eine landesweite Helmpflicht für Radfahrer gesetzlich verordnet wurde, führte dies zu einem dramatischen Einbruch des Fahrradbooms. Viele Radfahrer ließen ihr Fahrrad stehen, weil sie keinen störenden Fahrradhelm tragen wollten. Zwar sank dadurch auch die Anzahl der Kopfverletzungen, weil weniger Radfahrer unterwegs waren. Im Verhältnis zur geringeren Anzahl der Radfahrer nahmen die Kopfverletzungen hingegen zu. Durch wissenschaftliche Studien konnte der Nutzen einer Helmpflicht bislang nicht belegt werden.

Das Hauptargument des Oberlandesgerichts Schleswig, die große Verletzungsgefahr von Radfahrern sei so groß, weil sie im dichten Straßenverkehr als störendes Hindernis wahrgenommen würden, spricht genauso gut für die gegenteilige Position. Denn je mehr der Radverkehr – wie in der Vergangenheit schon – weiter zunimmt, desto mehr werden die Kraftfahrer Rücksicht auf Radfahrer nehmen. Es gibt Untersuchungen, die bestätigen, dass infolge steigenden Radverkehrs die Verletzungsgefahr sinkt.

Hinzu kommt, dass die Verkehrsplanung alles andere als fahrradfreundlich ist. Während für Fußgänger Gehwege eingerichtet sind, kommen Fahrradfahrer wegen der wenigen und oft untauglichen Fahrradwege viel öfter in Konflikt mit Kraftfahrern. Schließlich fördert Fahrradfahren die Gesundheit, weil man sich körperlich bewegt.

All das hat das Oberlandesgericht Schleswig nicht beachtet, obwohl es hierzu reichlich wissenschaftliche Untersuchungen gibt. Auch holte es keinen Sachverständigenbeweis dazu ein, ob und inwieweit Fahrradhelme dazu betragen, Radfahrer vor eigenen und fremden Gefahren zu schützen. Das Gericht beschränkte sich auf die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens dazu, ob und inwieweit ein Fahrradhelm im konkreten Fall die Verletzungen hätte verhindern oder vermindern können.

Im Einzelfall mag zwar ein Schutzhelm Kopfverletzungen vermeiden oder verringern. Für ein Mitverschulden reicht das jedoch nicht aus. Denn das Verschulden gegen sich selbst ist eine Ausprägung des Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben. Aus diesem Grundsatz folgt unter anderem, dass man sich nicht widersprüchlich verhalten darf, indem man etwa trotz eigener Mitverantwortung vollen Schadensersatz fordert. Eigene Verantwortung betrifft aber in erster Linie die Gefahren, die man selbst verursacht und auch selbst beherrschen kann und muss.

Die Gefahr einer Kopfverletzung ist bei Radfahrern allerdings nicht besonders hoch, wenn sie nicht in einen Unfall mit Fremdeinwirkung verwickelt werden. Denn anders als Motorradfahrer bewegen sich Fahrradfahrer lediglich mit eigener Muskelkraft fort. Die Gefahr von schweren Kopfverletzungen dürfte auch bei selbst verursachten Unfällen so ebenfalls so gering sein, dass jedenfalls von einem normal fahrenden Radfahrer keiner allein deshalb das Tragen eines Schutzhelms fordern wird.

Die Mitverantwortung der Radfahrer kann aber nicht so weit gehen, dass sie die Gefahren tragen, die daraus resultieren, dass die Kraftfahrer sich im Straßenverkehr nicht rücksichtsvoll genug verhalten und die Radfahrer als störende Objekte sehen anstatt als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer. Darüber hinaus sind Kraftfahrzeuge wegen ihrer Motorkraft gefährliche Objekte. Ihre Halter und deren Fahrer haften daher kraft Gesetzes auch ohne Verschulden allein aufgrund der durch ihr Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahr für die durch sie verursachten Schäden haften. Das nennt man Gefährdungshaftung. Die besondere Gefährdung durch Kraftfahrzeuge und die Nachlässigkeiten der Kraftfahrer können daher nicht, wie das Oberlandesgericht Schleswig es annimmt, durch eine Helmpflicht auf die Radfahrer abgewälzt werden.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Denn das Oberlandegericht Schleswig ließ die Revision zu. Bei dem Bundesgerichtshof, der bislang die Frage des Mitverschuldens bei Nichtragen eines Fahrradhelms offen lassen konnte, wird diese unter dem Aktenzeichen VI ZR 281/13 geführt wird. Der ADFC will die Radfahrerin dabei unterstützen, den Rechtsstreit zu Ihren Gunsten zu entscheiden.

Bis ein Urteil des Bundesgerichtshofs vorliegt muss man aber damit rechnen, dass auch weitere Gerichte dem Oberlandesgerichtshofs Schleswig folgen. Außerdem muss man damit rechnen, dass die Versicherungen bei der Schadensregulierung vermehrt ein Mitverschulden einwenden und schon deshalb weniger Schadensersatz und ein geringeres Schmerzensgeld zahlen werden. Allerdings ist selbst dann Voraussetzung, dass sich das Nichttragen des Schutzhelms auf den Schaden ausgewirkt hat. Das wird zu weiterem Streit und teuren medizinischen Gutachten führen.

Bevor man bei seinen Verhandlungen über die Höhe von Schadensersatz und Schmerzensgeld gegenüber der Versicherung vorschnell nachgibt, sollte man die Entscheidung des Bundesgerichtshofs abwarten.

Nachtrag: Der Bundesgerichtshof hat am 17. Juni 2014 (Aktenzeichen VI ZR 281/13) nun entschieden, dass die Radfahrerin kein Mitverschulden trifft. Der BGH hat das Urteil des Oberlandesgerichts Schleswig aufgehoben und der Klage der Radfahrerin in vollem Umfange stattgegeben. Lesen Sie hier mehr dazu.

Hier können Sie sich den Artikel als PDF ausdrucken: Mitverschulden_bei_Fahren_ohne_Fahrradhelm